19.06.2020 | Zukunft des CERN

„Higgs-Fabrik“ als der nächste große Teilchenbeschleuniger

Eine neue Forschungsstrategie soll das CERN in die nächsten Jahrzehnte führen. An der Ausarbeitung war auch ÖAW-Teilchenphysiker Jochen Schieck beteiligt. Er erklärt im Interview wohin die Reise in Zukunft gehen soll.

© ÖAW/Harald Ritsch

Europas Teilchenphysiker/innen stellen in einem neuen Strategiepapier die Weichen für die Zukunft der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN). Diese hatte 2018 eine Weiterentwicklung der Strategie von 2013 in die Wege geleitet, die jetzt veröffentlicht wurde. Dabei geht es nicht nur um kommende Generationen von Teilchenbeschleunigern, sondern auch - Stichwort Open Access - um die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, erklärt CERN-Ratsmitglied Jochen Schieck vom Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Interview.

Wie wird entschieden, wo die europäische Kernforschung hingeht?

Jochen Schieck: Eine Aufgabe des CERN ist es, die europäische Zusammenarbeit im Bereich der Teilchenphysik zu koordinieren. Zu diesem Zweck wurde vor zwei Jahren vom CERN Council eine Strategiegruppe eingesetzt, um ein neues Strategiepapier zu erarbeiten. Ich bin dort als österreichischer Vertreter beteiligt.

Geht es dabei auch um Geld?

Schieck: Das Papier beinhaltet hauptsächlich die wissenschaftliche Strategie und die Kosten sind nur ein Beitrag zur gesamten Strategieentwicklung. Wir haben allerdings darauf geachtet, keine absurden Forderungen zu stellen. Letztendlich müssen die Projekte, und die damit zusammenhängende Finanzierung, von der Politik entschieden werden. 

Die Entdeckung des Higgs-Boson stellt also keinen Abschluss dar, sondern ist die Tür zu neuem Wissen.

 

Was hat das vorangegangene Strategiepapier 2013 erreicht?

Schieck: Damals war die Lage einfacher. Das Higgs-Boson war gerade entdeckt worden, die weiteren Schritte waren also mehr oder weniger klar. Im Strategiepapier 2013 wurde das High-Luminosity-Upgrade für den Large Hadron Collider (LHC), den großen Protonenbeschleuniger des CERN, empfohlen und sich für einen Betrieb bis in die 2030er-Jahre ausgesprochen. Zudem wurde die Zusammenarbeit mit Neutrinoexperimenten in den USA und Japan vorgeschlagen.

Ist der Weg diesmal weniger klar, weil Entdeckungen wie die lange gesuchte Supersymmetrie ausgeblieben sind?

Schieck: Ja, es gibt eine gewisse Enttäuschung darüber, dass wir bisher keine Anzeichen für Supersymmetrie oder andere Theorien jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik gefunden haben. Die Hochenergiephysik war lange verwöhnt, weil wir oft wussten, wo und nach welchen neuen Phänomenen wir suchen müssen. Das ist diesmal anders. Aber am Ende ist auch die Supersymmetrie noch nicht vollständig widerlegt, wir können lediglich einige Varianten ausschließen.

Wo soll die Reise also hingehen?

Schieck: Der nächste Beschleuniger soll eine „Higgs-Fabrik" werden. Wir haben das Higgs-Boson 2012 entdeckt und damit das einzige skalare Teilchen des Standardmodells. Für ein besseres Verständnis müssen wir die Wechselwirkung des Higgs-Bosons mit anderen Elementarteilchen extrem präzise vermessen. Hier könnten wir neue Physik entdecken. Die Selbstinteraktion des Higgs kann man am LHC gar nicht oder nur sehr grob messen. Die Entdeckung des Higgs-Boson stellt also keinen Abschluss dar, sondern ist die Tür zu neuem Wissen.

Es gibt Ideen für einen Proton-Proton-Beschleuniger der nächsten Generation. Er soll Energien von mindestens 100 Teraelektronenvolt erreichen, das ist das Siebenfache des LHC. Die Technologie dafür könnte in den kommenden Jahren entwickelt werden.

 

Wie kann das erreicht werden?

Schieck: Im Strategiepapier haben wir auf die Empfehlungen der Strategie von 2013 verwiesen und dem High-Luminosity-Upgrade des LHC eine sehr hohe Priorität gegeben. Das Projekt wurde genehmigt und wird nun umgesetzt. Was danach kommt, ist noch unsicher und hängt auch von der verfügbaren Technologie ab. Es gibt etwa Konzepte für einen neuen Linearbeschleuniger in Japan. Den könnten wir aus technischer Sicht heute bauen. Daneben gibt es auch Ideen für einen Proton-Proton-Beschleuniger der nächsten Generation. Er soll Energien von mindestens 100 Teraelektronenvolt erreichen, das ist das Siebenfache des LHC. Die Technologie dafür könnte in den kommenden Jahren entwickelt werden. Ein zentraler Punkt der Strategie ist die Erarbeitung einer technischen und finanziellen Machbarkeitsstudie für diesen Future Collider. In einem erstem Schritt könnte man die Infrastruktur auch für eine Elektron-Positron „Higgs-Fabrik“ nützen. Gleichzeitig sollen aber auch alternative Konzepte evaluiert werden.

Weil andere Beschleunigerkonzepte kleiner und weniger aufwändig sein könnten?

Schieck: Ja, zum Beispiel sogenannte Plasma-Wakefield-Beschleuniger, bei denen Elektronen mit Plasmawellen beschleunigt werden. Diese Ideen sind aber noch nicht ausgereift und es könnte unüberwindbare Hindernisse geben. Auch ein Myonenbeschleuniger wäre denkbar. Myonen sind leichter auf der Bahn zu halten als Protonen und verlieren nicht so viel Energie durch Synchrotronstrahlung wie Elektronen. Myonen zerfallen allerdings schon nach 2,2 Mikrosekunden und müssen aufwändig erzeugt werden. Ob das machbar ist, ist unklar.

Unser Know-how geben wir in Zusammenarbeit mit der Industrie auch an die Gesellschaft weiter, zum Beispiel mit dem medizinischen Teilchenbeschleuniger MedAustron.

 

Was spielt neben technologischen Überlegungen noch eine Rolle im Strategiepapier?

Schieck: Investitionen in Grundlagenforschung sind ein großes Thema. Das CERN finanziert zum Beispiel auch die Erforschung von Hochtemperatursupraleitern, deren Bedeutung weit über die Hochenergiephysik hinausgeht. Außerdem soll die Zusammenarbeit in Europa künftig weiter forciert werden, etwa mit der Astrophysik, die andere Zugänge zur Teilchenphysik hat. Die Ausbildung junger Nachwuchswissenschaftler/innen spielt ebenso eine wichtige Rolle. Wir bekennen uns zu Open Access und Open Science. Unser Know-how geben wir in Zusammenarbeit mit der Industrie auch an die Gesellschaft weiter, zum Beispiel mit dem medizinischen Teilchenbeschleuniger MedAustron, an dem auch ÖAW-Physiker/innen forschen. Wir versuchen schließlich, unseren ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten. Wir wissen, dass die Teilchenphysik und das CERN nicht entkoppelt von der Welt existieren.

 

AUF EINEN BLICK

Jochen Schieck ist seit 2013 Direktor des Instituts für Hochenergiephysik der ÖAW, seit 2014 ist er auch Professor an der TU Wien. Zuvor hatte er eine Professur an Ludwig Maximilians-Universität München inne und forschte am Max-Planck-Institut für Physik. Schieck ist Vizepräsident des CERN Council und ist der Vertreter Österreichs in der vom CERN ins Leben gerufenen European Strategy Group (ESG).

Strategiepapier der ESG und weitere Informationen